BUCHPRÄSENTATION

Lothar Köster

Zahnstein

Erzählung, 350 Seiten

13. 02. 2007 ISBN: 978-3-00-019733-8   VVPN 00001001  

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Autor-Info:

Lothar Köster, Berlin

 

Zusammenfassung

Leseprobe

ZUM INHALT

 

Das UNGEWÖHNLICHE  weckt unsere Aufmerksamkeit.

Das ABWEICHENDE  sehen wir mit Furcht und Schrecken.

Das wirklich FREMDE  erkennen wir nicht,
wenn es uns schon ohne Interesse zermahlt.

 

Die Anstrengungen der letzten Wochen und die Verstimmungen der letzten Tage lagen nun hinter ihm. Heute konnte er mit einer gewissen Nachlässigkeit einen einfachen Auftrag abarbeiten, Routine und Gewohnheit. Innerlich hatte er sich bereits zurückgelehnt.
Was sollte heute noch geschehen, was er nicht schon früher hätte befürchten müssen?

Sand rutscht;   Holz splittert;   Stein bricht;   Stahl zerspant;
Alles findet seinen Meister.

Er trug eine leichte Jacke über dem Sommerhemd. Scharfer Staub lag auf seinen Fingern, ein grauer Mahlstaub, den er, der Mineraloge, nicht kannte.
Er erwartete den Ausgang wenige Meter vor sich. Dort wäre eine Sekretärin, die er in vertrauter Sprache nach dem richtigen Zimmer fragen würde. Er würde ein Glas Wasser tringen und diese Dunkelheit vergessen...
und den Staub ...
und diesen Geruch ...
und dieses Geräusch ...

Dieses Buch ist nicht für jeden.
Es folgt nur einem einzigen Bogen, der so lang ist, daß man erst spät seine Krümmung wahrnimmt. Der ganze Bogen wird abgegangen bis zu seinem Ende, an dem er nur noch brechen kann.

Keine Erwartung wird bedient. Keine Raserei, kein Sex, kein Spaß befreit den Lesenden.
Alles ist alltäglich, alles bleibt unbedenklich,
so lange, bis nichts mehr an seinem Platz zurückkehren kann.

Dieses Buch ist nur für ausdauernde, mutige Leser,

nur ein Bogen, nur ein Tageslauf, nur eine kleine Erzählung ...
 

LESEPROBE

1

Bei diesem Anblick verlor er die Routine, mit der er die Anstrengungen des langen Reisetages durchgestanden hatte. Dies störte ihn um so mehr, als er seinen Auftrag, die für morgen angesetzte Analysetätigkeit, durchweg als Standardvorgang einschätzen durfte, ohne jegliche Herausforderung, ja als gut bezahlte Entspannungsübung nach den anspruchsvollen Verpflichtungen der letzten Wochen und der Unruhe und Mißstimmigkeit der letzten Tage.

Er hatte in seinem Berufsleben als weltweit angefragter Gutachter der Mineralogie schon viele Schlüssel in die Hand gedrückt, in vielen Sprachen oder Englisch-Fragmenten Nummern gesagt bekommen oder zu verstehen versucht, und war schon durch manches fremde Gebäude geirrt, um seine Tür zu suchen, hinter der er für wenige Stunden Intimität und Ruhe finden wollte, und die er, erleichtert und befreit von der Öffentlichkeit der Reise, stets rasch von innen verschloß, um das Reisegepäck auszuräumen und die Fremde des Raumes durch seine privaten Wäschestücke und vertrauten Analysegeräte für die Stunden des Aufenthalts zu verdecken.

Aber dies hier war doch kaum seine, war gewiß keine mögliche, war überhaupt keine Zimmertür! Er durchschritt die mit einigen vergilbten Alabasterschalen beleuchteten Flure und stieg mehrfach über den abgelaufenen Treppenteppich je eine Etage höher und tiefer, nur um die Richtigkeit wenigstens der Etage bestätigt zu bekommen, in mit blättriger Farbe gemalten, doch deutlich lesbaren Ziffern. Im Anlauf zu einem neuen Versuch in die Höhe, auf der dritten Stufe des Treppenhauses, besann er sich, die Augen auf der Höhe eines etwas schief hängenden, gewichtig umrahmten Landschaftsbildes. Er hielt an und gestand sich eine innere Unruhe und Verunsicherung ein, die er in seinem Reisealltag lange nicht mehr gespürt hatte.

Vor ihm, und aus der Höhe der dritten Treppenstufe fast unter ihm, lag der Flur, die niedrigen Wände mit dunkelrotem Samt bezogen, unregelmäßig verziert mit ins braungraue verblichenen Fotografien vermutlich berühmter Gäste, altertümlichem Zierrat, kleinen Kommoden unklaren Stils und goldberandeten Porzellanvasen mit vertrockneten Sträußen, auf denen ein feiner grauer Staub lag. Dies war, eindeutig und unzweifelhaft ausgewiesen, zumindest als sein Flur zu akzeptieren. Er wagte nun doch den Schritt dort hinunter und wurde durch das Knarren der Stufenhölzer aus der Stille seiner Betrachtung gerissen. Offensichtlich übermüdet von dem langen Flug und ins Träumen geraten, gab er sich einen Ruck und zwang sich zu einer nüchtern-geschäftigen Lösung des banalen Problems, seine Reise für heute zu beenden, also sein richtiges Zimmer zu erreichen, das es mit dem ausgehändigten Schlüssel rasch von innen zu verschließen galt.

So oft er auch diesen Flur entlangschritt und mit größter Sorgfalt dem stetigen Anstieg und Abstieg der Nummern folgte, er kam bei allem Widerstreben nicht um das Eingeständnis herum, daß er sich auch hier nicht geirrt hatte. Links und rechts von ihm lag jetzt korrekt die Vorgänger- und Nachfolgenummer. Vor sich sah er das kleine, etwas schräg verschraubte Emailleschild mit genau seiner, der gesuchten Nummer auf dem richtigen Flur. Um so mehr blieb ihm die Vorstellung inakzeptable und beinahe physisch bedrückend, daß dies, was er hier, numerisch präzise lokalisiert, in Augenschein nahm, seine Zimmertür sein sollte.

Nun erst stellte er seinen ledernen Analysekoffer vorsichtig auf den Boden neben den Reisekoffer, den er wegen seines Gewichts gleich vor diesem unklaren Ort abgestellt hatte. Er sah sich noch einmal nach beiden Seiten um, aber der Gang war leer. Von anderen Gästen oder dem Personal war kein Laut zu hören. Jetzt am frühen Abend würde sich wohl jeder Gast in die berühmten, wenn auch mittlerweile etwas überlebten Altstadtgassen des historischen Hafenviertels begeben und, den aufgeregten und bis in die internationale Presse hochgekochten Schlagzeilen der letzten Tage zum Trotz, nach der Hitze des Tages die Atmosphäre dieser alten Kolonialmetropole aufzusaugen versuchen. Die auswärtig fortlebende Legende einer großen Vergangenheit stabilisierte und versorgte diese Stadt wieder recht passabel mit zahlungskräftigen Touristen als Ersatz für die verlorene Potenz der Industrien, die einst für üppigen Wohlstand gesorgt hatten. Abendliche Ergehungen waren jedoch nicht sein Stil, und auch die Strapazen der langen Anreise beschränkten sein Interesse auf baldigen Schlaf hinter einer, hinter seiner verschlossenen Tür.

Erneut versuchte er, die schweifenden Gedanken zu bändigen, zur Geschäftigkeit zurückzukehren und die vor ihm liegende Gegebenheit, der er durch die Hoffnung auf verwechselte Nummern gerne ausgewichen wäre, nüchtern zu untersuchen. Grob gesagt lag seine ausgewiesene Tür, die es rein sachlich tatsächlich gab, vor ihm am Ende eines kleinen Ganges, den man aber kaum Gang nennen konnte, da er viel zu schnell hinter der Wandlinie endete. Nun, Gänge aller Art, Dachtreppen, Kellerabgänge, lange, dunkle und verwinkelte Tunnel hatte er schon zur Genüge durchschritten, ohne einen Gedanken zuviel daran zu verlieren. Aber dies erschien ihm nicht als Gang, oder wenigstens ein inakzeptabler, unbegehbarer, ohne daß ihm klar wurde, worin die Abweichung bestand und was genau es war, das ihn so abschreckte und zurückwies.

Mit einem erneuten Ruck wollte er dem Grübeln ein entschlossenes Ende bereiten und die vor ihm liegende Tür öffnen, um mit dieser Reise für heute endlich zu einem Ende zu kommen. Das konsequent sachliche Handeln auf ein Ziel hin, unbeeinflußt von Einflüsterungen und Störungen der Umgebung, war doch ein zentraler Pfeiler seiner Lebensweise, insbesondere seiner fachlichen Tätigkeit. Diese nüchterne Konzentration auf bewährte Verfahren hatte ihn zum begehrten Analyseexperten mit lukrativen Aufträgen in aller Welt gemacht. Er genoß mit innerer Freude jene Momente, in denen er technische Störungen oder von interessierter Seite vorgenommene Einflußnahmen erkannte und mit hingabevoller Genauigkeit bloßstellte. Das war die wesentliche Qualität einer Analyse, die sie wertvoll, weil verläßlich und reproduzierbar machte. Die Enttarnung täuschender Indizien und die Auflösung verwirrender Daten in klar überprüfbare Kausalitäten, so spröde das ausgesprochen klingen mag, war seine eigentliche Leidenschaft, und die öffentlich akzeptierte Souveränität, die daraus erwachsen konnte, erfüllte ihn mit nicht geringem Stolz, ja sogar mit Lust, welche ihn für diese anstrengende Lebensweise bislang hinreichend entschädigt hatte.

Aber seine forsche Bewegung auf das greifbar nahe Reiseziel war schon im dritten Schritt von der Empfindung eines Ausnahmezustandes so stark gestört, daß er auf dem Fuße anhielt, ja geradezu verkrampfte, wie auf einer schwankenden Planke über dem Abgrund vorsichtig die drei Schritte auf den alten Trittpunkten zurückschlich, am Beginn des Gangs erstarrte und ernstlich über die Möglichkeit von Schwindel oder Übelkeit nachdachte. Ihm war aber nicht übel, das jedenfalls schien sicher. Vielmehr hatte er genau dort vor sich im Gang, auf den ersten drei Schritten, und nur dort, jegliche Sicherheit und Trittfestigkeit verloren. Die Irritation verband sich mit der nun rapide zunehmenden Müdigkeit, die sich in Sekunden bis zur Unwilligkeit steigerte. Er stand mit erstarrten Blick an der unsichtbaren Schwelle des Unortes und betrachtete seine Füße. Nach einem Moment, in dem ihm die Augen die Folgschaft verweigerten, bemerkte er mit wiedereinsetzender Aufmerksamkeit eine eigentümliche Unstimmigkeit am Boden. Das durchlaufende Teppichband des Flurs war hier, und nur hier nach einer großflächigen Zerstörung sorgfältig in mehreren langen Nähten restauriert worden. Die Dielenbretter vor diesem Gang waren von deutlich hellerem Holz, jünger, so schien es, und von der Flickstelle aus mit leicht ausgesplittertem Rand in den Gang hinein verlegt. Während er nun langsam mit den Augen diese Spuren abtastete, trat er instinktiv einige Schritte zurück, um das Muster der Störung aus der Distanz besser erfassen zu können. Als die ersten bloßen Dielen hinter dem Teppichband unter seinen Füßen knarrten, spürte er eine Verworfenheit in den konkreten Dingen vor seinen Augen, die aber, jede für sich, harmlos erschien. Der kurze Gang war ohne Lampe und wurde zusätzlich durch zwei mächtige, sehr düstere Landschaftsbilder in breiten, vergoldeten Barockrahmen verdunkelt, die beide nicht ganz gerade hingen und zudem sehr unterschiedlich von der Wand abstanden, als ob sie je an einem zu langen und zu kurzen Nagel aufgehängt wären. Auch die Decke wirkte finster, soweit man überhaupt von Decke sprechen konnte, denn sie war recht niedrig mit schwarzem Tuch abgehängt, das sich an mehreren Stellen wiederholt gelöst haben mußte. Die Schäbigkeit dieser Abdeckung schien ihm nicht zu dem sonst korrekten, wenn auch sehr gealterten Zustand des Hotels zu passen. Dies wirkte wie ein Provisorium für das Wochenende, in Ermangelung von Handwerkern von Hand und mit Hausmitteln gefertigt. Tatsächlich bemerkte er nun, daß der Stoff sich nicht etwa gelöst hatte, sondern vielmehr ungefähr diagonal angenagelt war, an einer Behelfslatte wohl, die zudem deutlich schräg nach unten verlief, statt der Waagerechten zu folgen, die man von einer Decke erwartete. Dahinter reichte der Stoff genau an die Oberkante der Tür heran, und zwar erstaunlicherweise exakt parallel.

Das konnte nicht sein, denn die deutlich sichtbare Schräge mußte ja dort ankommen. Er war so irritiert, daß er ohne Zögern auf diese befremdliche Konstruktion zuging, nach denselben ersten drei Schritten im Gang aber erneut ins Wanken geriet. Der Blick auf die Füße und ein herausforderndes Wiegen in den Knien sagten ihm schnell, daß tatsächlich der Boden leicht, aber spürbar unter seinem Gewicht wankte, und zwar so schwerfällig und langsam, daß er annehmen mußte, auf einem sehr großen, massiven, jedoch instabil aufgelegten Brett zu stehen. Er ging langsam tastend ein paar Schritte weiter und erkannte nun, daß die Parkettdielen nicht sauber verfugt waren. Sie wiesen unterschiedlich große Lücken auf und fügten sich insgesamt zu einer leichten Rechtskurve, und besonders dort, in der Rechtskurve, war die seitliche Instabilität besonders deutlich zu spüren.

Als er nun endlich den Blick wieder auf die Deckenbehängung richtete, geriet er erneut ins Schwanken. Der schwarze Stoff erreichte die Türoberkante wirklich exakt parallel, erschien aber trotzdem eindeutig schief nach rechts geneigt. Von diesem Widerspruch herausgefordert, spürte er zugleich eine immer bezwingendere Müdigkeit und war geneigt, die Unstimmigkeiten zu tolerieren, um nur diese Tür hinter sich zu bringen. Er suchte sich kurz von der Unwichtigkeit dieser Erscheinungen zu überzeugen, die seinen Weg in keiner Weise versperrten, atmete zur Entspannung tief durch und griff mit demonstrativem Desinteresse nach der Klinke, verfehlte sein Ziel aber auffallend um eine halbe Handbreit und starrte nun auf den Türrahmen vor sich. Der schwere Holzrahmen neigte sich nicht unerheblich nach rechts, wenn er auf die Klinke sah. Auf dem Fußboden hingegen war alles im rechten Winkel, trotz der unterschiedlichen Fugen im Parkett. Die Decke war eindeutig schief, kam aber ebenfalls parallel zum Rahmen an. Der Mangel an räumlicher Konsistenz verwirrte ihn um so mehr, je öfter er zwischen Decke und Boden hin- und herblickte. Er wendete den Kopf. Seitlich, hinter den solide gearbeiteten Bilderrahmen, war eine Krümmung in der Wand erkennbar, und der Blick zurück zeigte ihm seine beiden Koffer auf einem invers schrägen Flurboden. Die Fußleisten waren mit Gewalt und schweren Schrauben in die Drehung gezwängt worden.

Er empfand sich als Opfer eines schlechten Handwerkerwitzes. Man konnte hier nicht stürzen, man stieß sich nicht den Kopf, aber die feine und unerwartete Instabilität des Bodens, die Unbestimmtheit des Raumes selbst, die ihn gerade deshalb so getroffen hatte, weil er all das, was auf ihn wirkte, nur mühsam erkannt hatte, verunsicherte ihn zutiefst. Zornig, erschöpft und widerwillig betrat er ein durchschnittliches Hotelzimmer, zog wenig später, nach den üblichen Verrichtungen und der Ausbreitung seiner Habe die Bettdecke über sein Gesicht und wartete auf die Wirkung des kleinen Fläschchen Cognacs, das er sich, keineswegs aus Gewohnheit, heute zur Entspannung aus seiner Notfallausrüstung verordnet hatte.

2

Nach einem Tiefschlaf unbestimmter Länge überkamen ihn unruhige Traumbilder mit Sequenzen der etappenreichen und von den üblichen Unsicherheiten geprägten Reise. Die deutliche Abflugsverspätung gleich am Morgen, die Eile und das Gedrängel beim ersten Anschlußflug, die Zweifel an der Korrektheit der unklar ausgestellten Tickets, die nervösen Kontrollen der unzähligen Polizisten und die unverständliche Gereiztheit des Bodenpersonals, das Zittern um das Gepäckstück, das von der Ladung getrennt und mit bedenklicher Verspätung über das Band kam. Die Ereignisbilder verbanden und mischten sich nun zu nervösen Sequenzen, die in krassem Widerspruch standen zu den endlosen, verdösten Stunden in den Flugzeugsitzen und Wartebänken, inklusive einiger Stunden Zeitverschiebung, die ihn jetzt aus dem Schlafrhythmus herauszuwerfen drohten wie ein zu früh gestellter Wecker. Hatte er denn seinen Wecker eingeschaltet? Diese Frage unterbrach seine Traumbilder abrupt und wischte sie aus seinem Bewußtsein, das durch diese kurze panische Regung von einem Augenblick zum anderen in den Wachzustand überging. Während er die Hand schon hob, um den kleinen, wichtigen Knopf seines Weckers kontrollierend zu umfassen, begann er eine Rechnung über die genaue Einstellung der Zeit bei Berücksichtigung der Stunderverschiebung und der zu planenden morgigen Vorbereitungen. Er merkte, daß sein Denken doch noch sehr nebulös und in der Unverbindlichkeit der Nacht verfangen war, denn diese einfache, über viele Jahre eintrainierte Rechnung wollte ihm nicht gelingen, und die Gedanken, die zu einfachen Zahlen zusammengefaßt werden mußten, verschwammen in immer reicher auskristallisierenden Details und Randthemen. Er versuchte, die Zeitzonenschablone vor das innere Auge zu bekommen, die er sich aus seinem Vorjahreskalender herauskopiert hatte - praktischerweise war sie laminiert - sie wies einen markanten und eigentlich unerklärlichen Bruch auf, ärgerlicherweise genau durch die so häufig benötigte mittlere Zone - der letzte Auftrag dort war trivial gewesen, und hätte man den Assistenten an die Geräte gelassen, wären sie ohne ihn ausgekommen - im Hotelzimmer dort hatte der marode, hauseigene Wecker jede Stunde gepiep, was er erst nach drei Versuchen durchschaut hatte - langsam schwächelnde Batterien konnten einen elektronischen Wecker zu unberechenbarem Verhalten bringen, Zeitsprünge, verdoppeltes Tempo, ausgesetzte Stunden, zitternde Zeiger - bei der kleinsten Unregelmäßigkeit verliert man sofort das Vertrauen in digitale Geräte, und zwar vollständig - da war die hübsche Sinnestäuschung, die er in Gesellschaften stets mit Erfolg zum Besten gab: die kleine, ewig reproduzierbare Schrecksekunde bei der Kontrolle des Sekundenzeigers, der, wenn der Blick auf die Uhr fällt, für eine lähmend lange Zeit stillzustehen und bei einer ausgesetzten Sekunde erwischt worden zu sein schien, diesen 'Fehler' aber immer zeigte, wenn man ihn unvermittelt ins Blickfeld nahm, und danach stets korrekt weitertickte - das Mißtrauen gegen die Uhren sitzt tief - davon abgesehen, auf welchen Stand hatte er nun zuletzt den knallroten Weckzeitzeiger gestellt - er konnte diesen trotz seiner relativen Breite stets auf die Minute plazieren, was ihn immer verwunderte - so, wie er gebogen war, müßte er doch nach Augenschein den Minutenzeiger berühren und blockieren, was jedoch bislang ...

Über seine in diesem Müdigkeitszustand forteilenden Gedanken hatte er den eben in der Luft erstarrten Arm wieder sinken lassen, und nun spürte er, daß er mit der Hand deutlich ins Leere griff, dort, wo der Wecker in unmittelbarer Nähe zur Bettkante auf dem Nachttisch positioniert und nicht zu verfehlen war. Mit dieser Handbewegung hatte er ihn doch vor einer ihm jetzt unklaren Anzahl von Stunden platziert, genau hier, und obwohl er keine Erinnerungen an die eingestellte Zeit erlangen konnte, war er sich auf den Zentimeter sicher über den Ort, den er gewählt hatte. Aber es war kein Wecker greifbar, und es griff sich auch kein Nachttisch. Mit welcher Hand hatte er den Wecker denn plaziert? Mit der linken doch? War das die Erinnerung an Links und die linke Hand und ihre typische Unsicherheit in Bewegungen? Oder war er unsicher gewesen und hatte sich die Rechte linkisch und links gedacht? Die Links-Erinnerung schwand bei genauerem Nachdenken immer mehr, und um sich aus dem halt- und grenzenlosen Traumgrübeln zu lösen, griff er erneut zu. Das war aber wieder die Linke, seine Linke, und in einer kurzen Verwirrung griff er fast kindlich mit den Händen ratlos ineinander, um dann entschieden und sicher die rechte Hand zu einer tastenden Erkundung im hoch angesetzten und sehr langsam verfolgten Bogen auf die andere Seite sinken zu lassen in Erwartung der Nachttischkante und gegebenenfalls des kleinen Weckers, den er nicht umstoßen wollte durch eine übertriebene Bewegung in der Dunkelheit.

Es war entschieden dunkel, oder genauer, wie ihm erst jetzt bewußt wurde, es war finster im absoluten Sinne des Wortes. Es gab keinen Schimmer Licht, der irgendeinen Halt oder eine Grundorientierung ermöglicht hätte. Und mitten in dieser ratlos bestaunten Erkenntnis über diese völlige Abwesendheit von Sichtbarkeiten streifte seine ausgestreckte Hand mit den Fingerspitzen an eine Wand. Es war eine kühle, papierglatte Fläche, gegen die er nun die Handfläche drückte und daran vorsichtig entlangstrich. Hier sollte doch keine Wand sein, sondern in zwei Meter Entfernung der runde, wackelige Holztisch, auf dem er mit einigem Vorbehalt seinen Analysekoffer abgestellt hatte. War seine Vorstellung verdreht, hatte er sich gar, wie es in seiner Kindheit oft vorgekommen war, in der Bewußtlosigkeit des Schlafes im Bett verdreht und so die Orientierung verloren? Er war kein Kind mehr, und das Bett zu schmal für solche Formen von Schlafwandelei. Wo war der Tisch und der Nachttisch? Dies war die linke Bettkante, die er nun nach Rückwendung mit der Hand abtastete, und hier, nachdem er ein hinreichend langes Stück erkundet hatte, ließ er nun vorsichtig seine Füße herunter. Sie landeten auf einem weichen, wolligen Untergrund, aber er hatte einen harten, verfilzten Teppich erwartet, den er gestern noch wegen der zerschlissenen Stellen vor dem Bett mit Vorsicht überschritten hatte.

In dieser stabilen und aufrechten Haltung an der Bettkante sitzend versuchte er sich zu konzentrieren und zu einer klaren Vorstellung der Zimmereinrichtung zurückzufinden. Räumliche Orientierung war nie seine Stärke gewesen, und in den Jahrzehnten seiner Berufstätigkeit kam sie auch als Thema oder Aufgabenstellung nicht vor. Die Mineralien, mit denen er zu tun hatte, kristalline, keramische sowie glasige aller Art, wandelten sich in seinen Händen und Instrumenten erst zu Staub und dann in lange Listen von Eigenschaften und Bestandteile, allesamt zu qualifizieren in Typenbegriffen und zu quantifizieren in Zahlen und Einheiten, vielleicht in großer Komplexität, aber niemals in einer dimensionalen Ordnung, wie sie zur Beschreibung von und Orientierung in Räumen dienen würde. Eine Kristallstruktur wurde beispielsweise aufgelöst in Winkel und Symmetrieachsen, was ihren Charakter nicht veränderte, sondern im Gegenteil explizit werden ließ und die oft mit hohem Aufwand an Laborkunst erzielte Neu- und Sonderwertigkeit der Proben dokumentierte. Die restlose analytische Auflösung der komplexen Ganzheitlichkeit in auflistbare Merkmale war gerade der besondere Zug der von ihm betriebenen strukturellen und chemischen Materialbewertungen, und die von interessierter Seite aus aller Welt an ihn gerichteten Anfragen und Auftragsangebote nährten ihn so reichlich, daß er bereits über ein ruhiges, reisefreies Klausurjahr zwecks Verfassung eines Fachbuches nachgedacht hatte, ja sogar über den schon jetzt gut finanzierbaren Ruhestand. Die Häufung von Aufträgen in den letzten fünf Wochen hatte ihn so in Anspruch genommen, daß sogar der ihm stets wichtige Jahreskongreß seiner Fachgesellschaft zur Anstrengung geraten war. Für diesen so hochdotierten, aber immerhin anspruchslosen Auftrag hatte er den Kongreß sogar relativ überstürzt verlassen müssen.

Nun aber saß er auf einer Bettkante ohne Erinnerung an das ihn bergende Zimmer, das er doch vor wenigen Stunden mit einem Blick erfaßt und memoriert zu haben glaubte, und fand seinen Wecker nicht. Der sehnsüchtige Gedanke an verbleibende Schlafstunden drängte ihn dazu, die Klärung der Situation zu beschleunigen und entweder seinen Wecker, der ja für solche Fälle eine Leuchtfunktion beinhaltete, oder den Lichtschalter für die Deckenlampe zu erreichen. Er stand langsam auf, im unsichtbaren, aber sicher nicht leeren Raum schwankend. Seine analytische Schulung verordnete ihm nun eine Systematik gegen die Blindheit, denn spätestens an der Wand angelangt und dort in gleichbleibender Richtung fortgetastet, würde er nach kurzer Zeit auf die Tür und damit auf den Lichtschalter stoßen. Um dabei aber nichts umzustoßen, war er zur Umsicht, nein, besser zum Ertasten seines Weges gezwungen. Das Tasten war ihm äußerst fremd,und der Raum schien vollständig aus seiner bildlichen Erinnerung verschwunden zu sein.

Er setzte kleine Schritte voreinander, hielt die Hände mal in Kopf-, mal in Kniehöhe vor sich in den dunkel-leeren Raum, und hatte schnell das Gefühl für die zurückgelegte Strecke verloren. Schon nach kurzer Zeit gelang es ihm nicht mehr, sich über die Zahl und Menge der erfolgten Schritte Rechenschaft abzulegen. Einen, zwei, fünf Meter, das war nicht mehr zu sagen, und er versuchte, sich auf den absurd unvorhersehbaren Fall eines Zusammentreffens mit unbekanntem Interieur zu konzentrieren. Die Ereignislosigkeit des Tastens, der Mangel an Entwicklung und Bezugnahme zur Umgebung, ja das Fehler jeglicher Umgebung erzeugten in ihm ständig den Verdacht des Träumens im Wachen, den Verlust der Wachheit, ja den Schrecken einer möglichen totalen Isolation, der er faktisch nahe schien. In dieser reizfreien Gleichförmigkeit traten ihm unbestimmte Wahrnehmungen, wild fluktuierende Formen und unfaßbare Dinge entgegen, die gleich wieder wirkungs- und folgenlos verflogen. Das Nichts, vor dem er lauschend stand, war nicht einfach leer, was ihn hätte beruhigen können, sondern es war die Offenheit der Leere, das Fehlen der beschränkenden Wahrnehmungen, die alles möglich erscheinen ließ. Und die Ahnungen strömten zügellos als Mahlgut der Müdigkeit aus ihm selbst heraus. Alles war unsicher, unbekannt. Er war in der Fremde.

Jetzt meinte er auf eine Unebenheit des Bodens gestoßen zu sein. Die Fußsohlen erfaßten eine eigentümlich undeutliche, diagonal von links hinten nach rechts vorn verlaufende Unstetigkeit im Bodenbelag, der hier schon nicht mehr weich genannt werden konnte. Als er sich, in der Dunkelheit sinnlos, zu diesem Phänomen langsam herunterbeugte, stieß er mit dem Kopf leicht gegen einen flachen Gegenstand, der federnd und in sich heiser rasselnd zurückwich. Erst allmählich durchdrang dieses Ereignis das konzentrierte Interesse an der unscheinbaren Veränderung unter seinen Füßen, und erst nach Sekunden war er sich vollständig bewußt, daß er etwas gefunden hatte, das der Wahrnehmung Orientierung geben könnte. Er griff vorsichtig an den Ort des Zusammenstoßes, griff durch diesen hindurch, worüber er sehr erschrak, und fand endlich deutlich tiefer in der Schwärze Kontakt mit der Fläche. Sie stand nun in einem weit nach links verdrehten Winkel und wich unter dem leichen Druck der Finger sofort zurück. Er schlich tastend hinterher, folgte der Drehung, erfühlte und erklopfte eine Art Holzplatte, eine leichte Schranktür wohl, wie sich am eingesteckten Schlüssel und der verstärkten Seitenkante erraten ließ.

Er verspürte Normalisierung und Erleichterung, denn die Dunkelheit hatte ihre Leere verloren, und im Weiteren konnte es nur konkreter werden, bis ein kleiner Druck auf den entscheidenden Schalter die Ungewißheit in Sekundenteilen zu einem tristen Hotelzimmer schrumpfen lassen würde. So griff er, einen zielsicheren Schritt voraus, hinter die Tür, um den Schrank als Ganzes zu erfassen, fand aber zunächst weder Schrankseite, Regale oder Kleiderbügel, sondern erst zwei Schritte weiter eine senkrechte Stange, die leicht schwangte und etwas nach rechts geneigt erschien. Zugleich stolperte sein Fuß über etwas Weiches, eine umgeschlagene Teppichecke oder ein Kleidungsstück, und da er es umging, faßte er mit der rechten Hand eine Wand, stieß eine kurze Strecke weiter gegen einen schweren Bilderrahmen, den er dadurch verschob und sinnloserweise wieder geradezurücken versuchte, und umging ein kleines Möbel, eine Kommode, auf der etwas beim Anstoßen leise wackelte.

Als er nun vorsichtig den Weg am Möbel vorbei suchte, um die Wand nicht zu verlieren, gestand er sich ein, wie orientierungslos er geblieben war. Alle Fundstücke seines Weges waren ihm erinnerbar, aber sie ließen sich vor seinem inneren Auge nicht zu einem Raum zusammenfügen. Er wäre nicht einmal in der Lage, den Weg zurückzufinden. Die Vorstellung, daß er in diesem dunklen Raum gegenwärtig keine Orientierung fand, schlug langsam in die Frage um, ob dies der Raum war, den er erinnerte. Hatte er nicht vor Augen, wie er seinen Wecker in die Analysetasche auf dem schwankenden Tisch verstaut hatte? Das war gestern passiert. Der unter seinem leichten Anzug zerbrochene Bügel - war das beim letzten Auftrag? Er erinnerte sich ganz sicher an einen Sprung durch das Porzellan des Waschbeckens, aber auch an ein angelaufenes Messingbecken, Marmor, Keramik mit Abschlägen, mit Einritzungen, ohne jeden Makel, in Hellblau, Altrot, Weiß, Mattweiß, Grau ... Er schien alle diese Becken zu erinnern, alle in einem, ohne Vorher und Nachher, ohne Raum, Stadt und Land, übereinandergelegte Fotografien auf Glasplatten, und mit einem kleinen Wechsel des Fokus sah er mal dieses, mal jenes, konkret und unfaßbar, weil alle Details präsent waren, aber keine Ordnung mehr in diese Bilder kam, kein Termin- und Auftragskalender mit fester Reihenfolge, ein zeitloser Erlebnishort, ein Haufen durch Unachtsamkeit vermischter Dias all dieser vielen Hotelzimmer der letzten Jahre.

Sein Spielraum für überlegtes Vorgehen wurde spürbar enger, je mehr Aufmerksamkeit er für das Unsichtbare und Ungewisse aufbringen mußte. Der Gedanke an ein lediglich unbeleuchtetes Hotelzimmer wurde immer undeutlicher, fremder, und überlagerte sich mit ausschweifenden Befürchtungen, die physiologischer Natur waren. Seine blinden Sinne stellten seine körperliche Balance und Stabilität in Frage. Nicht ein sichtbarer Abgrund, sondern die völlige Unkalkulierbarkeit des nächsten Schritts erzeugten in seiner Motorik ziellose Ausgleichsreaktionen, die Hände konnten keinen Halt finden, und sein Gleichgewicht wurde bezuglos, unbestimmt. Reflexe dominierten immer mehr sein Verhalten, das nicht mehr sein Verhalten war, das nicht mehr von ihm kontrolliert wurde. Er fand nicht mehr zur Wand zurück, die hinter dieser winzigen Kommode fühlbar gewesen war. Er faßte in den Raum, vergebens, dann tiefer, und endlich stießen seine Finger schmerzhaft gegen eine harte, aber leichte Fläche, die sofort zurücksprang wie eine neuerliche Schranktür oder ein Paravent, das er umgestoßen haben könnte. Jetzt nicht lange herumfingern, weitersuchen, sagte er sich, nachdem er allerdings schon weitergetrieben worden war durch Reflexe des Balancierens und Sicherns. Ein kurzes Stück Festes (Wand?), Weiches mit Schwere (Vorhang? Garderobe?), ein Stoß an die Oberschenkel (Tisch? Kommode? Bett?), unregelmäßiger Boden, Schwankendes, Knarrendes, Nachgeben zur Seite, Anschlagen, Verrutschen, Schräge, Bröselndes, Unverbundenes, steinernes Knirschen, ausrutschende Sohlen, wankend nachgebender Boden, kein Halt mehr. Ein extrem hoch und hart mahlender Ton, der Geschmack von ausgeschliffener Keramik und überhitztem Metall auf der Zunge, Geschmack und Ton, Ton und Geschmack in Deckung, fein stäubendes Steinmehl, ein Ton, ein Pfeifen, schrill, näher kommend, anschwellend, dieses scharfe Schneiden, ein unendlich hohes Zirpen und Knirschen, ein herber, bitterer Klang und Geschmack, dann das schrille Singen eines gestürzten Stahls, dröhnender Hall, ein Hall von alledem, ein nicht endenwollender Hall, unerträglich lange, bis er sich in der dunklen Stille verliert, Stille und Schwärze wie stumpfer Zahnschmerz.

3

Pünktlich vom vertrauten Piepton geweckt und im fröhlichen Streifenlicht der durch die Fensterläden scheinenden Sonne aufgestanden, hatte er ohne Zögern seinen Analysekoffer gepackt und sein sonstiges Gepäck im Reisekoffer verstaut, der bald vom Flughafenservice abgeholt werden würde. Am folgenden Morgen würde er zwar früher, aber ohne Ballast zum Flughafen fahren, und der heutige Tag war harmlose Routine von wenigen Stunden Labortätigkeit. Nach dem soliden, schnell verzehrten Frühstück und der Erledigung der Formalitäten schritt er durch das altherrschaftliche, in dunklem Holzwerk fast finster ausgestaltete Treppenhaus und das Portal ins Offene. Dort wurde er von warmem Sonnenschein erfaßt, der von dem klaren Himmel und den hellen Fassaden so intensiv auf ihn einwirkte, daß er aus seiner Jacke die selten gebrauchte Sonnenbrille herausfingern mußte, um die Augen überhaupt öffnen zu können.

Er hatte vorab den gesprächigen Portier passiert, der fröhlich und ausführlich, wenn auch kaum verständlich jenen heftigen Erdstoß vor fünf Tagen schilderte, der in der Stadt einigen Schaden hinterlassen und im Hause fast den Verlust des neuen Anbaus mit mehreren schönen Zimmern bedeutet hatte, aber eben nur fast, wie er rasch mehrfach versicherte. Tatsächlich gab es nur leichte Schäden, die provisorisch gesichert waren, ohne die Stabilität des ansonsten recht beliebten Zimmers, seines Zimmers, infrage gestellt zu haben. Erst die Rückfrage nach der Aufgeregtheit des Flughafenpersonals und den dort an jeder Ecke ausgerufenen Extrablättern brachte den Portier aus dem Rhythmus dieser beiläufigen Plauderei, mehr noch, er stockte für eine Sekunde, verlor jeglichen Gesichtsausdruck und drehte zuletzt nur noch den Kugelschreiber unmerklich zwischen zwei Fingern. Überraschend federte er auf seinem Stuhl rückwärts, legte dann den Kugelschreiber betont ruhig auf den Tresen vor sich hin und sprang geradezu in seine charmante Rolle zurück. Er entschuldigte sich schelmisch zwinkernd für die Hysterie der hiesigen Presse, die solches wohl leider nötig habe.

Der Portier hatte nicht übertrieben, als er, in raschem Themenwechsel, die Altstadt und gerade diese Straße mit ehrlicher Begeisterung lobte. Links und rechts blickte man in eine breite Prachtstraße mit reich verzierten, repräsentativen Fassaden und einem gepflegten Zierstreifen zwischen den Fahrspuren, mit mittelwüchsigen, lichten Bäumen, die in einem pastellhellen Blauton Blütendolden in den Dunst des Morgens hängen und leuchten ließen. Zu seiner Linken erhob sich die Straße in allmählicher Steigung, zunächst von repräsentativen Bürgerhäusern umsäumt, während im weiteren Verlauf alte Villenviertel die eng angrenzenden, links steil ansteigenden Hügel bedeckten. Hinter seinem Hotel fand sich auf dem Gipfel eines sehr nahen, zirka zweihundert Meter hohen Berges über einer felsigen Gallerie üppiger Pflanzenwuchs, der auf lichten Wald oder einen verwilderten Park schließen ließ. Zu seiner Rechten lief die Straße in einem leichten Bogen zum alten Hafenviertel und zur Uferpromenade hinab. Die Häuserreihen, überragt von einem historischen Leuchtturm, verdeckten zu seinem Bedauern durchgängig die Sicht auf das Ufer, und nur am Ende der Straße war ein kleiner Durchblick auf das Blau des Meeres frei.

Sein Blick fiel erneut auf den dicht und abwechlungsreich bepflanzten Grünstreifen, in dem sich ein kleiner Pfad verspielt entlangschlängelte. Schon jetzt war der Straßenraum voller eilender Menschen und drängelnder Fahrzeuge. Dort in der grünen Mitte aber herrschte unberührte Einsamkeit. Das überraschte ihn, und weil er noch viel Zeit hatte, strebte er sogleich darauf zu, ohne sich von dem dichten Strom der Fahrzeuge auf der davor liegenden Fahrbahn abschrecken zu lassen. Tatsächlich wich der Strom durch sein forsches Auftreten vor ihm aus und floß respektvoll um ihn herum. Lediglich die Temperatur des allgemeinen Hupkonzerts stieg kurz fiebrig an. Er betrat das Grün an einer von ungeduldigen Füßen ausgeschliffenen Furt im Gesträuch, schritt einige Meter den gefegten Weg entlang und fand dort vor wild wuchernden Rosenbüschen eine leerstehende Bank, auf die zerstreute Strahlen der schon intensiven Morgensonne fielen.

So nahe der Verkehr auch toste, die wirren und hektischen Bewegungen der Autos waren jetzt aus seinem Blickfeld verbannt, und die Geräusche verschmolzen zu einem breiten Sturzbach kontinuierlicher Geschäftigkeit.

Er ließ sich auf der Bank nieder, schaute sich die zum Teil auch für sein geübtes Auge exotischen Gewächse rundherum an und kam nach den in routinierter Eile verrichteten Morgengeschäften wieder zu einer distanzierten Sicht, einem inneren Zurücklehnen. Er entspannte sich und versank in Grübeleien.

Was für eine kurzweilige Stadt, von der er hier freilich nur den drei-Sterne-Boulevard vor Augen hatte, und was für ein angenehm kurzer Auftrag von höchstens zwei bis drei Stunden konzentrierter Analyse. Diese harmlose Aktion heute schloß eine Kette sehr hektischer Analysefälle ab, die sich über Wochen hingezogen und ihn um die Welt gejagt hatte. Endlose Sicherheitskontrollen, Verschwiegenheitserklärungen, Geheimhaltungsstufen, der Umgang mit extrem wertvollen Proben und diffizile Unwägbarkeiten in den spröden Materialien nervös terminierter Hightech-Projekte hatten ihn in jedem Einzelfall ganz gefordert. Der anschließende Jahreskongreß seiner wissenschaftlichen Gesellschaft, den er sonst stets als theoretische Auffrischung und kollegiale Plauderei genießen konnte, hatte ihn diesmal deutlich in den Zustand von Anstrengung und Überforderung versetzt. Allzu viele neue Technologien wurden von allzu wuseligen Assistenten aus den großen Forschungsstätten über die Bildschirme gejagt. Röntgenstrukturanalysen hatten ihn schon seit Jahrzehnten begleitet, und er hatte sich an ihre Abstraktheit gewöhnt, aber die neuen Verfahren mit Synchrotronstrahlung und ihre vielen kernphysikalischen Varianten machten ihm beachtliche Mühe, und die Theorien aus dieser Ecke waren ihm immer schon reichlich esoterisch und hermetisch vorgekommen. Der Kanon der etablierten Themen und Techniken langweilte ihn demgegenüber mit den minimalen Detailfortschritten, die von altgedienten Professoren in stets neuer Euphorie ausgewalzt wurden. Alljährlich wurden hier sensationelle Sprünge vorangekündigt, von denen dann, nach einigen Monaten Fachdiskussion und gnadenloser Relativierung durch die Verfahrenspraxis, nichts Nennenswertes mehr übrig blieb. Die einzige wirklich spannende Ankündigung, die Bewegung in ein seit langem festgefahrenes Problemfeld bringen sollte, verpuffte durch Abwesenheit der Vortragenden. Ihr Thema wäre nahe an seinem aktuellen Fachgebiet gewesen, denn sein fast zwei Jahrzehnten verdiente er sich sein Honorar und seinen Ruf mit der präzisen Bewertung jener Ausgangsmineralien, aus denen die immer diverseren Halbleiterstrukturen für das Wachstum der Mikroelektronik gezüchtet werden sollten. Das erfolglose Ausharren für diesen letzten eingeplanten Vortrag hätte ihn fast die notwendige Zugverbindung gekostet, durch welche er dann doch noch, in aller Ruhe und in einem soliden Schlafwagen, zu seinem Startflughafen gelangt war.

Der günstige Umstand dieses letzten Auftrags heute gab ihm die Gelegenheit, in dieser für ihn noch fremden Landschaft und Kultur bei Bedarf ein paar Tage des touristischen Vergnügens anzuhängen, ohne sein überraschend großzügiges Honorar in nennenswerter Weise zu schmälern. Er wußte bislang freilich nur wenig über diese Stadt. Alle seine Erkenntnisse stammten aus einem kleinen Faltblatt, das er an der Hotelrezeption mit dem Schlüssel in die Hand gedrückt bekommen hatte. Er zog es aus seiner Jackentasche und las den kurzen historischen Abschnitt noch einmal gründlich durch. Mehrere Jahrhunderte lang floß über diesen Hafen der Strom der Kolonialprodukte, insbesondere die hier gefundenen und extensiv abgebauten Schwer- und Edelmetalle, und aus diesem Reichtum erwuchs nicht nur eine repräsentative Architektur, sondern zur Jahrhundertwende auch eine nicht unbedeutende Schwerindustie, die allerdings die 60er Jahre nicht überstand. Die Kessellage zwischen Bergen und Küste sowie der einsetzende Tourismus bewahrten die alte Stadtsubstanz vor Verfall, Abriß und allzu ehrgeizigen Verkehrsprojekten. Die neuzeitlichen und doch schon wieder funktionslosen Hafenanlagen, Speicher und Fabriken im flacher gelegenen Südteil dienten später noch einigen Filmprojekten als Kulisse und standen nun leer. Die Topographie dieser Küstenregion, insbesondere der recht hohe Hausberg, der dicht an die Küstenlinien herantrat, und dessen markante Kuppe eben jetzt über den Dächern der Straße zu betrachten war, bewirkte eine vorteilhafte Beschränkung des Blicks auf das historische Hafenviertel, die Küste und die mit Villen bestandenen Hügel.

Ein früher morgentlicher Aufbruch deutlich vor der notwendigen Stunde war in den letzten Jahren zu einer festen Angewohnheit geworden, die ihn vor der unvermeidlichen Unruhe seiner Arbeit an wechselnden Orten und Projekten ein wenig bewahrte. Was immer der Tag mit Fahrwegen, Laborterminen und Beratungsgesprächen von ihm forderte, er hatte ihn in luxuriöser Ruhe und gemessenen Schrittes begonnen. Das schnitt ihn von dem Druck des Vortages ab und vermied eine Akkumulation der Anspannung. Seine von den Sonnenstrahlen etwas überblendeten Augen, an deren Empfindlichkeit er nun doch die Spuren der unruhigen Nacht spürte, wanderten über die Pflanzung, verloren aber zunehmend die Motiviertheit und Konzentration, so daß die üppig wuchernden und schon lange nicht mehr beschnittenen Büsche tatsächlich kaum noch Einfluß auf seine wandernden Vorstellungen hatten. Nach einigen verlorenen Sekunden bemerkte er, daß sein Blick an einen Punkt gefesselt war. Ein winziger, im Brustgefieder metallisch blau schillernder Vogel saß dort, seitlich abgewandt, scheinbar erstarrt, und ließ sich vom leichten Wind nicht bewegen. Tatsächlich saß er wohl auf einer festen Stange, welche den Astbewegungen nicht folgte. Dieser Vogel mit graugelbem Schnabel, den sein wanderndes Auge eingefangen hatte und der ihm nun zum Fix- und Fluchtpunkt wurde, saß mit unerschütterlicher Ruhe, mit hochgehaltenem Kopf und teilnahmsloser Selbstgenügsamkeit wenige Meter vor ihm, ohne den hupenden Verkehr, die wiegenden Äste oder den nahe sitzenden Menschen in irgendeiner erkennbaren Weise zu beachten. Er wirkte wie der absolute Ruhe- und Angelpunkt dieser fremden Stadt, der alle Hast und Unruhe auf das gesunde Maß der Dinge relativierte, und so, wie sein eigener Blick von den seitlich in die Welt starrenden Augen des Vogels in Bann geschlagen waren, verlor auch er den pulsierende Fluß der Veränderung aus dem Sinn. Einige Sekunden vergingen, bis er nachvollzogen hatte, was geschehen war.

Scheinbar ohne die Unbewegtheit aufzugeben, war der Kopf des Vogels herumgeschnellt, die kleinen Punkte der Augen nun auf ihn gerichtet, bar jeder Erhabenheit. Wieder merkte er verspätet die Veränderung, das Herumschnellen des Vogelkopfes in die entgegengesetzte Richtung mit einer unfaßbaren Heftigkeit. Fast schien es ihm, als sei der Vogel aus dem engen Blickfeld eines Fernglases seitlich entflohen. Zugleich aber durchzuckte ihn ein Reflex, der ihm die Hände abwehrend vor das Gesicht trieb. Erst als die Hände wieder auf seinen Schoß sanken, verband sich das Wahrgenommene zu einer Vorstellung. Dieser ruhige kleine Vogel war ihm eben mit Zentimeterabstand am Gesicht vorbeigeflogen, auf dem er den Lufthauch des schwirrenden Gefieders noch erinnerte. Mit seinem noch immer starren, an den leeren Sitzpunkt gehefteten Blick, der von der eigenen Handbewegung nicht unterbrochen und abgelenkt worden war, entdeckte er nun im Gebüsch das Erzittern einiger Äste, ja er glaubte, ein rasches pfeifendes Atemgeräusch und ein Rascheln gehört zu haben.

Die Autos hupten, erregte Stimmen schallten vom Fußweg herüber, aber das hatten sie die ganze Zeit getan. Er atmete durch in der bewußten Selbstverpflichtung, nicht jetzt schon in völlige Entspannung zu sinken und seine Gedanken zunächst auf den noch bevorstehenden, letzten und trivialsten Auftrag zu richten, mit dem die wochenlange, zeitlich stark gedrängte und ihn sehr beanspruchende Folge von Gutachten und Analysen ausklang. Er hatte wieder bei jedem einzelnen Auftrag gespürt, daß er es fachlich mit allen Konkurrenten aufnehmen konnte, und die Kunden hatten das durchweg zu schätzen gewußt. Aber er mußte sich eingestehen, daß er nicht mehr zu einer solchen hektischen Reisetätigkeit bereit war. Ein Gefühl der Belastung, ja des Widerwillens hatte sich in seine Aktivitäten gemischt. Der pausenlose Wechsel der hochspezifischen Problemstellungen und der Arbeitskontexte nahmen ihm die Leichtigkeit der Konzentration, die er als letztlich allein arbeitender Spezialist immer genossen hatte. Er hatte vor zehn Jahren noch deutlich hektischere Phasen problemlos durchgestanden, aber warum sollte er dies heute noch akzeptieren, da er sich die Termine jetzt nicht mehr diktieren lassen mußte. Rückkehr, Rückzug, Ruhe, die ungestörte Aufarbeitung der aktuellen Fachliteratur, und auf absehbare Zeit das eigene Bett, diese Bedürfnisse waren nicht mehr zu leugnen und nicht mehr aufzuschieben. Den heutigen Auftrag wertete er als friedlichen Ausklang des überzogen langen Spannungsbogens, als eine letzte, anspruchslose Fingerübung, und er wunderte sich im Nachhinein, warum er diesen Termin ohne Not und Verpflichtung überhaupt angenommen hatte. Er hätte es nicht nötig gehabt.

Im Schatten anderer, anspruchsvoller Anforderungen hatte er diesen Auftrag in seinem inneren Plan bislang nur grob klassifiziert. Er erinnerte sich an einige Unklarheiten und Ungereimtheiten im Schriftverkehr, weshalb er sich die Unterlagen nun noch einmal konzentriert durchlesen wollte. Selbst die trivialsten Tätigkeiten erforderten, das hatte er frühzeitig gelernt, wenigstens eine kurze Rekapitulation der Verfahrensschritte und der Auswertungskriterien. Alle Details, an die er sich erinnern konnte, schienen unbedenklich, das Ganze jedoch barg noch eine Unstimmigkeit, die er diffus wahrnahm, aber nicht dingfest machen konnte. Er hatte sich in den letzten, recht erfolgreichen Jahren mehr und mehr die nervöse Unsicherheit gegenüber den Auftraggeben abgewöhnt, die ihn zwang, sogleich mit Eingang einer Anforderung Erkundigungen über diese einzuziehen, Fachkollegen anzurufen oder in den Fachverzeichnissen Anhaltspunkte zur Seriösität und Solvenz zusammenzutragen. Sein hoher Marktwert schützte ihn mittlerweile vor dubiosen und unkalkulierbaren Terminen. Dieser Hintergrund an Sicherheit war auch für sein unruhiges Reiseleben, das für sich schon genug Risiken barg, unverzichtbar geworden. Seine langjährigen Erfahrungen gaben ihm eine Art Instinkt für die Stimmigkeit von Aufgabe, Aufwand und Auftraggebergebahren. Nun aber hatte er den Verdacht, durch das ungewöhnlich großzügige Honorar über die Eile und Unbestimmtheit des Auftrags hinweggesehen zu haben.

Die einst international bedeutsame Bergbaugesellschaft, die hier im weiten Umkreis fast die ganze Palette seltener, insbesondere edler Metallerz-Vorkommen in ihren Händen gehalten hatte, war ihm mehr aus der Literatur vertraut und seit langem nicht mehr innovativ in Erscheinung getreten. Er hätte sie eher als Verwaltung eines im Zerfall befindlichen Nachlasses eingestuft, wenn nicht dieser höfliche Brief in feinster Aufmachung um seine Dienste in einer nebenläufigen, aber interessanten Qualitätsprüfung angefragt hätte. Man war über seine Honoraransprüche informiert und hatte noch aufgeschlagen, lobte seinen guten Ruf und versprach, sich um alle Begleitumstände der langen Anreise und des kurzen Aufenthalts großzügig zu kümmern. Nach all den frühen Jahren mit unterschiedlichem Erfolg hörte er solche Wertschätzungen gerne, und gegen den vorgeschlagenen Anschlußtermin hatte er sachlich nichts eingewendet. Man hatte ihm noch einen Folgeaufenthalt im benachbarten Badeort anempfohlen, wo zu dieser Zeit eine freundliche Milde des Klimas und beste Wassertemperaturen lockten. Aber das Strandleben war nicht seine Sache, und nach den neuesten Zeitungsmeldungen über die für dieses Meer ungewöhnliche, ja in diesem Jahrhundert nicht gekannte Algenblüte, die gerade vor dieser Stadt ausgebrochen und kilometerweit über die Küste getrieben war, kam eine solche Unternehmung kaum für ihn in Frage. Er würde es immer vorziehen, in eigener Regie und möglichst mit dem Zug ein paar Tage durch das Land zu reisen und in Muße die Eindrücke dieser noch völlig unerfahrenen Fremde zusammenzufügen.

Die weiteren Einzelheiten zum Untersuchungsmaterial und der vorhandenen Technik, die man in einem Folgeschreiben der entsprechenden Abteilung mitzuteilen versprochen hatte, ließen jedoch auf sich warten. Da trotz aller Flexibilität der Analysegeräte doch stets eine Entscheidung über die Auswahl der Ausstattung und Datenbestände erforderlich ist, war er schon ein wenig verunsichert, als schließlich dieses kurzatmige Fax eintraf, das zwar die technischen Fragen etwas klärte, aber auf sonderbare Weise dem Stil des Anschreibens widersprach und ein befremdliches Licht auf den immer noch völlig unbekannten Hintergrund des Auftrags warf. Mit "... unerwartete Entwicklung ..." war er schon oft konfrontiert worden, insbesondere in der Materialentwicklung, im Zusammenhang mit Bruch- und Ermüdungsphänomenen, Alterungen und spontanen Umstrukturierungen unter starker Last. Gerade die modernen Materialien waren komplex und immer für Überraschungen gut. Aber was sollte sich bei der Rohstoffgewinnung, ja im Bergbau unerwartet entwickeln? Dort gab es normalerweise keinen überraschenden Fund unbekannter Mineralien, kein kurzfristiges Material- oder Prozeßproblem, und in diesem Fall ging es, wie angekündigt, lediglich um die qualitative Anteilsanalyse, also die Bestimmung von Verunreinigungsspuren. Genannt wurde "das bekannte Wertelemente" in einem für sich trivialen Mineralkontext. Erst jetzt merkte er, daß er für diese seltsame Formulierung ohne Zögern jenes klassische Edelmetall eingesetzt hatte, dessen Gewinnung er mit der alten Gesellschaft assoziierte, dessen Namen oder Symbol tatsächlich aber nicht direkt genannt worden war. Dieser Stil, dieses 'sie wissen ja, was wir herstellen', war ihm als Gehabe so vertraut, daß er auch hier selbst konkretisiert hatte, was nicht gesagt worden war.

Sollten hier alte Haldenbestände aufbereitet werden? Das wäre für die Erben einer Infrastruktur von mehreren Jahrhunderten Bergbau sicher kein schlechtes Geschäft, würde aber ein völlig neues und ihm noch unbekanntes Verfahren erfordern. Er las die Fachpresse und reiste immerhin direkt vom Jahreskongreß der Fachgesellschaft an, so daß es ihn sehr überraschen würde, wenn er eine diesbezügliche Entwicklung übersehen hätte. Also ein noch geheimes Vorhaben?

Es war üblich, daß er neben seinen mobilen Analysegeräten die vorhandenen Laboreinrichtungen nutzen konnte, insbesondere die aufwendige Technik zur Strukturanalyse, für die Mineralogie so elementar wie die Spektralanalyse für die Astromonie oder die Fingerabdrücke für die Kriminalistik. So wunderte er sich über das vollständige Desinteresse einer Bergbauunternehmung an den kristallinen Strukturen der Proben. Man hatte in halben Sätze von "... drei Gramm, pulverisiert, G.M.T.-Verfahren ..." geschrieben, und die Beschränkung auf dieses seltene Verfahren, das in der Halbleiterforschung, seinem Spezialgebiet, nicht aber in diesem Kontext der Edelmetalldarstellung einen Sinn machte, paßte am wenigsten zum Profil des Auftraggebers. Er wußte, was er zu tun hatte, und der Auftraggeber wußte auch, daß er hierbei einer der führenden Experten war, aber er konnte sich hier und jetzt keine Vorstellung von dem technischen Kontext machen, in dem dies alles einen Sinn ergeben würde.

Ein leichter Wind bewegte die schattenspendenden Baumkronen, und einzelne Strahlen der Sonne fielen flackernd in sein Auge. Er blinzelte etwas aufgestört, öffnete den Analysekoffer und entnahm die Hülle mit den wenigen Dokumenten, die er für diesen Auftrag bislang erhalten hatte: Das Schreiben, ein Stück Faxpapier, und das Blatt mit der maschinengeschriebenen Wegbeschreibung, auf dessen Rückseite ein Stadtplan aufkopiert worden war. Letzteres war ihm am Flughafen hinterlegt worden. Bereits den Weg zum vorreservierten Hotel hatte man ihm mit Busnummer und Abfahrtzeiten genau beschrieben, und aufgrund der zeitlichen Enge hatte er, gegen alle Gewohnheit, am Flughafen keinen aktuellen Straßenplan für diese Stadt erwerben können. Bei erster Durchsicht der Beschreibung erschien es ihm auch nicht notwendig, da dort von einer sicheren Verbindung mit einmaligem Umsteigen die Rede war. Ziffern und Pfeile verwiesen auf die relevanten Punkte im Plan, und aufgrund der Zeitreserven machte er sich diesbezüglich keine Sorgen.

 

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